Rezension zu „Oh Simone!“ von Julia Korbik

„Ich möchte vom Leben alles!“ – ein wunderschöner Ausdruck, der sich wie ein roter Faden durch Julia Korbiks Buch Oh Simone! über die gleichnamige Philosophin und Schriftstellerin zieht. Korbik gelingt es, einen frischen Blick auf Simone de Beauvoir (1908-1986) zu werfen, die weit mehr war als die Lebensgefährtin von Jean-Paul Sartre. Auf 322 Seiten im Taschenbuchformat zeigt sie uns eine Simone, die nicht nur eine gewichtige Stimme in den philosophischen Diskursen ihrer Zeit hatte, sondern auch eine Frau, die unermüdlich für ihre Freiheit und Unabhängigkeit kämpfte.

Simone im Kontext von Sartre

In den meisten Erzählungen über Simone de Beauvoir wird sie oft nur im Kontext ihrer Beziehung zu Sartre erwähnt – als seine intellektuelle Partnerin, die seine Manuskripte gegenlas und ihre Gedanken mit ihm teilte. Doch Korbik macht deutlich, dass sie mehr war: eine Denkerin von mindestens ebenbürtiger analytischer Schärfe. In ihrem Buch beleuchtet sie nicht nur die berufliche, sondern auch die private Seite dieser Frau: ihre streng katholische Erziehung, die Erwartungen ihrer Eltern und ihr Kampf mit den Rollenbildern ihrer Zeit.

Studium der Philosophie

Für eine Frau war es im 20. Jahrhundert noch ungewöhnlich, zu studieren (und dann auch noch Philosophie). In einer Zeit, in der Frauen oft in traditionelle Rollen gedrängt wurden, bedeutete dies, sich den Konventionen und Erwartungen der Gesellschaft zu widersetzen. Philosophie galt als männlich dominierte Disziplin und der Zugang zu akademischen Kreisen war für Frauen oft schwierig. Sich für dieses Fach zu entscheiden, zeugte von besonderem Mut und dem Wunsch, sich intellektuell mit den großen Fragen der Menschheit auseinanderzusetzen.

Für Simone de Beauvoir war das Studium der Philosophie ein entscheidender Schritt, der ihre gesamte Denkweise und ihren Lebensweg geprägt hat. Korbik beschreibt anschaulich, wie Simone de Beauvoir sich ihren Weg durch das männlich dominierte Feld der Philosophie bahnte – eine der wenigen Frauen, die Philosophie studierten. Man erfährt von ihrer Begegnung mit Sartre und anderen Denkern und von ihrem ersten großen literarischen Erfolg, der es ihr ermöglichte, nach vielen Jahren als Lehrerin an einer Mädchenschule ihren eigenen Weg zu gehen, eine Wohnung in Paris zu beziehen und sich ganz dem Schreiben zu widmen.

Philosophische Grundidee

Der Grundgedanke war der Existentialismus. Dieser ist eng verbunden mit ihrer Überzeugung, dass der Mensch sich seine eigene Identität und Bedeutung schaffen muss. Sie lehnte die Vorstellung ab, dass es ein vorgegebenes Wesen oder Schicksal für den Menschen gibt. Das berühmte Zitat, das ihren Ansatz oft zusammenfasst, lautet: „Existenz geht der Essenz voraus“. Das bedeutet, dass der Mensch zuerst existiert und sich dann durch seine Handlungen und Entscheidungen definiert – es gibt kein vorgegebenes „Wesen“ oder eine Natur, die uns sagt, wer wir sind.

Simone de Beauvoir setzte sich intensiv mit dem Thema der Freiheit und der Verantwortung auseinander. Für sie bedeutet menschliche Freiheit, dass wir die Fähigkeit haben, unser Leben aktiv zu gestalten und Entscheidungen zu treffen. Doch diese Freiheit bringt auch eine immense Verantwortung mit sich, da wir für die Folgen unserer Entscheidungen einstehen müssen. In ihrem Denken spielt die Idee eine Rolle, dass wir zwar frei sind, aber unsere Freiheit nicht losgelöst von der Gesellschaft und den Strukturen, in denen wir leben, betrachten können. Diese Strukturen setzen uns Grenzen, die aber nicht unveränderbar sind.

Idee des Anderen

Ein zentraler Punkt bei de Beauvoir ist die Idee des „Anderen“. Sie beschreibt, wie Menschen sich oft über die Abgrenzung zum Anderen definieren. Im Kontext ihrer feministischen Überlegungen hat sie das besonders auf die Beziehung zwischen Männern und Frauen angewandt: Männer haben sich traditionell als das Subjekt, das Normale, das Maß der Dinge verstanden, während Frauen zum „Anderen“ gemacht wurden. Frauen wurden historisch auf diese Weise in eine Rolle gedrängt, die ihnen wenig Raum zur Selbstbestimmung ließ. Ihr berühmter Satz „Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht“ fasst diesen Gedanken zusammen: Frauen wird durch gesellschaftliche Normen und Rollenbilder eine spezifische Identität zugeschrieben, die sie einengen und ihrer Freiheit berauben. Der Existentialismus bietet hier eine Grundlage, um zu verstehen, dass Frauen sich durch bewusste Handlungen und Selbstreflexion aus diesen Fesseln befreien können.

Simone wird politisch

Während des Zweiten Weltkriegs erweiterte de Beauvoir ihre Schriften um politische Themen und engagierte sich zunehmend auch öffentlich. In der Nachkriegszeit wurde sie zu einer zentralen Figur der Frauenbewegung – eine Pionierin, die sich nicht scheute, Missstände offen zu benennen und für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen.

Auf einen Kaffee mit den Existentialisten

In den 1940er und 1950er Jahren war Paris das Zentrum der Existentialisten, einer philosophischen und literarischen Bewegung, die tief in den Erfahrungen und den Krisen des 20. Jahrhunderts verwurzelt war. Besonders im Pariser Quartier Latin fanden sich Intellektuelle in Cafés wie dem „Café de Flore“ und „Les Deux Magots“ zusammen, um über ihre Ideen und Werke zu diskutieren. Hier trafen sich unter anderem Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus, um ihre Gedanken auszutauschen und das Denken einer ganzen Epoche zu prägen. Die Cafés waren mehr als Freizeitbeschäftigungen: sie boten Raum für hitzige Debatten, radikale Ideen und das gemeinsame Ringen um die Bedeutung der menschlichen Existenz. In der Nachkriegszeit, als Frankreich sich von der Besatzung durch Nazi-Deutschland erholte, waren diese Orte Treffpunkte für jene, die den Zustand der Welt und die Rolle des Individuums in einer unsicheren, sich wandelnden Gesellschaft hinterfragten. Man suchte nach einer neuen Form der Freiheit und Authentizität, die die existenziellen Krisen und moralischen Dilemmata ihrer Zeit reflektierte.

Korbiks Buch ist dabei nicht nur eine klassische Biografie, sondern eine Einladung zum Neudenken. Oh Simone überrascht mit Anekdoten und einem tiefen Verständnis dafür, warum de Beauvoirs Ideen heute noch aktuell sind: Weil Simone de Beauvoir uns zeigt, wie wichtig es ist, kritisch zu denken und das zu tun, wofür man brennt.

Mehr Informationen zum Buch hier:

https://www.rowohlt.de/buch/julia-korbik-oh-simone-9783499633232

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